Blättert man durch das Neue Testament oder hört aufmerksam das
Evangelium während eines Gottesdienstes, so können bei Nicht-Theologen, aber
auch bei Theologen schnell folgende Fragen auftauchen: Wieso wird in der Bibel
immer von einem „Tempel“ gesprochen? Das Judentum ist doch eine Schriftreligion
und zum Beten gehen die Juden in eine Synagoge!? Was hat nun plötzlich ein „heidnisch-römischer“
Tempel mit dem Judentum oder gar mit seiner Tochter- bzw. Schwesterreligion,
dem Christentum zu tun?
Fragen über Fragen – und letztendlich erschloss sich für mich die
derart herausragende Bedeutung des Tempels für das Judentum der Zeit Jesu erst
auf unserer Israel-Exkursion.
Als wir bei unserer Ankunft in Jerusalem auf dem Mount Scopus bei
Sonnenuntergang die gesamte Jerusalemer Altstadt vor uns liegen hatten, wurden
unsere Blicke sozusagen automatisch von der goldenen Kuppel des Felsendomes
angezogen, der heute auf dem Areal des jüdischen Tempels steht und eigentlich
das gesamte Stadtpanorama von Jerusalem dominiert. Als wir dann am Abend zur
„Western Wall“ (Klagemauer) – ein originales Teilstück der Tempelbergbefestigung
aus herodianischer Zeit – liefen, so ragte eine 18 m hohe Steinmauer vor uns
auf und spätestens jetzt wurden uns die gewaltigen Ausmaße des jüdischen
Tempels bewusst. Heute noch ist die „Westmauer“ als letztes Relikt des Tempels
das größte Heiligtum der Juden – auch uns als Nichtjuden war es gestattet
(natürlich geschlechtergetrennt) bis zur Mauer zwischen den betenden Juden
vorzugehen.
Der Grund dafür, dass vom Tempel selbst heute nichts mehr übrig
ist, ist die völlige Zerstörung des Tempels durch den römischen Feldherrn Titus
im jüdisch-römischen Krieg im Jahre 70 n.Chr. Um einen Eindruck von der
Architektur des Tempels und seiner Integration in das damalige Stadtbild von
Jerusalem zu bekommen, besichtigten wir im Israel-Museum ein sehr großes Modell
des Zweiten Tempels. Hier wurde uns noch einmal die Konzeption des Tempels vor
Augen geführt: Vorhof der Heiden, Frauenvorhof, Männervorhof, Priesterhof bis
hin zum Allerheiligsten, welches nur einmal im Jahr am Versöhnungstag vom
Hohepriester betreten werden durfte. Das von Herodes dem Großen begonnene
Bauwerk soll eines der prächtigsten Bauwerke der Antike gewesen sein. Flavius
Josephus schreibt dazu in seinem Werk: „Der äußere Anblick des Tempels bot
alles dar, was Auge und Herz entzücken konnte. Auf allen Seiten mit schweren
goldenen Platten bekleidet, schimmerte er bei Sonnenaufgang im hellsten
Feuerglanz und blendete das Auge gleich den Strahlen des Tagesgestirns.“ Im
Tempelmodell war auch sehr deutlich der Brandopferaltar vor dem Allerheiligsten
zu sehen, auf dem die Paschalämmer, aber auch größere Tiere, wie z.B. Stiere
geschlachtet wurden. Sicherlich darf wegen der üblichen Übertreibung in
Josephus Schilderungen die Beschreibung des Tempels, was ja schon fast einer
Glorifizierung gleichkommt, nicht nur für bare Münze gehalten werden. Man muss
ebenso bedenken, dass es durch die vielen Opferschlachtungen vorkommen konnte,
dass man in der Umgebung des Altars durch das Blut der Opfertiere waten musste.
Durch die regelmäßig dargebrachten Brandopfer konnte der Tempel auch nicht
immer in einem goldenen und weißen Licht leuchten, sondern war umgeben von Rauchschwaden,
welche vermutlich auch nicht die angenehmsten Gerüche mit sich trugen.
Der eigentliche Tempel war schließlich umgeben von einer großen
freien Fläche, welche wiederum von einer Säulenhalle umringt war, in der die
Kaufleute ihre Stände hatten. In dieser Säulenhalle fand auch die Tempelaktion
von Jesus statt – und nicht, wie oft vermutet wird, im eigentlichen Tempel. An
der Nordwestseite des Tempels ragte die Burg Antonia hoch empor.
Durch das Tempelmodell bekamen wir sowohl einen Einblick in die
architektonische Gestaltung des herodianischen Tempels, wir konnten jedoch auch
eine Sensibilität für die herausragende Bedeutung des Tempels und des
Tempelkultes des antiken Judentums entwickeln. Umso mehr wurde uns bewusst,
welche Zäsur die Tempelzerstörung für das damalige Judentum darstellte und das
Judentum seitdem zu einer reinen Schriftreligion „konvertierte“. Auch wenn der
Tempel schon seit fast 2000 Jahren zerstört ist, so hatte ich das Gefühl, dass
er während unserer Tage in Jerusalem omnipräsent war, sei es in Museen, sei es
in der Auseinandersetzung mit der Theologie des Judentums oder einfach im
Gespräch mit Tamar, unserer jüdischen Reiseleiterin, die uns u.a. von
Strömungen im Judentum erzählte, die für eine Wiedererrichtung des Tempels und
eine Restauration des Tempelkultes plädieren.
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