Freitag, 4. Mai 2012

Omnipräsenz trotz Zerstörung - der Jerusalemer Tempel


Blättert man durch das Neue Testament oder hört aufmerksam das Evangelium während eines Gottesdienstes, so können bei Nicht-Theologen, aber auch bei Theologen schnell folgende Fragen auftauchen: Wieso wird in der Bibel immer von einem „Tempel“ gesprochen? Das Judentum ist doch eine Schriftreligion und zum Beten gehen die Juden in eine Synagoge!? Was hat nun plötzlich ein „heidnisch-römischer“ Tempel mit dem Judentum oder gar mit seiner Tochter- bzw. Schwesterreligion, dem Christentum zu tun?
Fragen über Fragen – und letztendlich erschloss sich für mich die derart herausragende Bedeutung des Tempels für das Judentum der Zeit Jesu erst auf unserer Israel-Exkursion.
Als wir bei unserer Ankunft in Jerusalem auf dem Mount Scopus bei Sonnenuntergang die gesamte Jerusalemer Altstadt vor uns liegen hatten, wurden unsere Blicke sozusagen automatisch von der goldenen Kuppel des Felsendomes angezogen, der heute auf dem Areal des jüdischen Tempels steht und eigentlich das gesamte Stadtpanorama von Jerusalem dominiert. Als wir dann am Abend zur „Western Wall“ (Klagemauer) – ein originales Teilstück der Tempelbergbefestigung aus herodianischer Zeit – liefen, so ragte eine 18 m hohe Steinmauer vor uns auf und spätestens jetzt wurden uns die gewaltigen Ausmaße des jüdischen Tempels bewusst. Heute noch ist die „Westmauer“ als letztes Relikt des Tempels das größte Heiligtum der Juden – auch uns als Nichtjuden war es gestattet (natürlich geschlechtergetrennt) bis zur Mauer zwischen den betenden Juden vorzugehen.
Der Grund dafür, dass vom Tempel selbst heute nichts mehr übrig ist, ist die völlige Zerstörung des Tempels durch den römischen Feldherrn Titus im jüdisch-römischen Krieg im Jahre 70 n.Chr. Um einen Eindruck von der Architektur des Tempels und seiner Integration in das damalige Stadtbild von Jerusalem zu bekommen, besichtigten wir im Israel-Museum ein sehr großes Modell des Zweiten Tempels. Hier wurde uns noch einmal die Konzeption des Tempels vor Augen geführt: Vorhof der Heiden, Frauenvorhof, Männervorhof, Priesterhof bis hin zum Allerheiligsten, welches nur einmal im Jahr am Versöhnungstag vom Hohepriester betreten werden durfte. Das von Herodes dem Großen begonnene Bauwerk soll eines der prächtigsten Bauwerke der Antike gewesen sein. Flavius Josephus schreibt dazu in seinem Werk: „Der äußere Anblick des Tempels bot alles dar, was Auge und Herz entzücken konnte. Auf allen Seiten mit schweren goldenen Platten bekleidet, schimmerte er bei Sonnenaufgang im hellsten Feuerglanz und blendete das Auge gleich den Strahlen des Tagesgestirns.“ Im Tempelmodell war auch sehr deutlich der Brandopferaltar vor dem Allerheiligsten zu sehen, auf dem die Paschalämmer, aber auch größere Tiere, wie z.B. Stiere geschlachtet wurden. Sicherlich darf wegen der üblichen Übertreibung in Josephus Schilderungen die Beschreibung des Tempels, was ja schon fast einer Glorifizierung gleichkommt, nicht nur für bare Münze gehalten werden. Man muss ebenso bedenken, dass es durch die vielen Opferschlachtungen vorkommen konnte, dass man in der Umgebung des Altars durch das Blut der Opfertiere waten musste. Durch die regelmäßig dargebrachten Brandopfer konnte der Tempel auch nicht immer in einem goldenen und weißen Licht leuchten, sondern war umgeben von Rauchschwaden, welche vermutlich auch nicht die angenehmsten Gerüche mit sich trugen.
Der eigentliche Tempel war schließlich umgeben von einer großen freien Fläche, welche wiederum von einer Säulenhalle umringt war, in der die Kaufleute ihre Stände hatten. In dieser Säulenhalle fand auch die Tempelaktion von Jesus statt – und nicht, wie oft vermutet wird, im eigentlichen Tempel. An der Nordwestseite des Tempels ragte die Burg Antonia hoch empor.
Durch das Tempelmodell bekamen wir sowohl einen Einblick in die architektonische Gestaltung des herodianischen Tempels, wir konnten jedoch auch eine Sensibilität für die herausragende Bedeutung des Tempels und des Tempelkultes des antiken Judentums entwickeln. Umso mehr wurde uns bewusst, welche Zäsur die Tempelzerstörung für das damalige Judentum darstellte und das Judentum seitdem zu einer reinen Schriftreligion „konvertierte“. Auch wenn der Tempel schon seit fast 2000 Jahren zerstört ist, so hatte ich das Gefühl, dass er während unserer Tage in Jerusalem omnipräsent war, sei es in Museen, sei es in der Auseinandersetzung mit der Theologie des Judentums oder einfach im Gespräch mit Tamar, unserer jüdischen Reiseleiterin, die uns u.a. von Strömungen im Judentum erzählte, die für eine Wiedererrichtung des Tempels und eine Restauration des Tempelkultes plädieren.

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